Kann Deutschland keine Großprojekte?

Kann Deutschland keine Großprojekte?

Warum brauchen wir für alles so lange? Für einen Flughafen, einen Bahnhof, einen Windpark, ein paar Kilometer Autobahn? Es liegt an der Zauneidechse – und am gemeinen Mitbürger.
Erinnern Sie sich noch? Vor gut 20 Jahren war ein großer Tag für Berlin und die ganze Republik. Das brandenburgische Landesministerium für Infrastruktur und Raumordnung erließ Mitte August 2004 den Planfeststellungsbeschluss für den Ausbau des Schönefelder Flughafens. In einfachen Worten: Das war die Baugenehmigung für den neuen Hauptstadtflughafen BER.
Zwei Jahre später fand der symbolische erste Spatenstich statt, im November 2011 sollte die erste Maschine vom BER starten. Wie das bei großen Bauprojekten so ist, kam dann etwas dazwischen und die Eröffnung wurde auf Anfang Juni 2012 verschoben.
Sechs Wochen vor diesem Termin gab es eine Vorbesichtigung des neuen, praktisch fertigen Airports. Politiker, Vertreter der Baufirmen, brandenburgische Lokalprominenz und ein paar Journalisten trafen sich in einem Hangar des BER. Die Regierungschefs von Berlin und Bandenburg, Klaus Wowereit und Matthias Platzeck, hielten launige Reden: Seht her, das Werk ist gelungen! Die Gäste waren kaum wie-der zu Hause, da erreichte sie die Nachricht, dass die Eröffnung doch noch ein-mal verschoben werden müsse. Es gab Probleme mit der Brandschutzanlage. Was dann folgte, war ein technisches, finanzielles und politisches Fiasko. Immer neue Mängel, Missmanagement und Pfusch am Bau traten zu Tage. Letztlich musste die ganze Gebäudetechnik noch einmal neu gebaut werden, siebenmal(!) wurde der Eröffnungstermin verschoben. Die Kosten stiegen von gut einer auf mehr als sieben Milliarden Euro. Am neun Jahre nach dem geplanten Termin ging der Flughafen schließlich ans Netz.
Der  BER war eine einzige Blamage  – für Berlin und für Deutschland. Die ganze Welt sah zu, wie das Land der Tüftler und Erfinder, der Techniker und Ingenieure einen  Flughafen  in den märkischen Sand setzte. Der BER war und ist aber kein Einzelfall.  Stuttgart 21  ist auch so eine Geschichte. Im Jahr 1997 bekam die schwäbische Metropole einen neuen Oberbürgermeister: Wolfgang Schuster, ein CDU-Mann, Typ kommunaler Manager, ein pragmatischer Macher. Seine erste Priorität war der neue unterirdische Bahnhof, das Großprojekt schlechthin. Der OB war für acht Jahre gewählt, eine zweite Amtszeit war möglich. 2013, so sein Kalkül, würde er aus dem Amt scheiden – und rechtzeitig den neuen Bahnhof eröffnen. Als Wolfgang Schuster 2013 aus dem Amt schied, hatte noch kein Bagger irgendeinen Kubikmeter Erde am Stuttgarter Hauptbahnhof bewegt. Erst 2014 ging es überhaupt los, seitdem wird die Stadt um-gegraben und untertunnelt. Die Züge fahren jetzt an einem unwirtlichen Bahnsteig-Provisorium ab. Reisende müssen, wenn sie in Stuttgart ankommen und mit der S-Bahn oder der U-Bahn weiterwollen, mit ihren Rollkoffern und Rucksäcken zu Fuß einmal rund um die Riesenbaustelle ziehen. Man nennt es den „Fernwanderweg“. Es ist in Stuttgart, wie es in Berlin-Brandenburg war: Die Kosten explodieren (von 4 auf 11 Milliarden Euro), die Eröffnung wird immer wieder verschoben, jetzt soll es Ende 2026 so weit sein …
Kann Deutschland keine Großprojekte mehr?  Frankfurt am Main will sich eine neue Oper gönnen. Seit sechs Jahren wird diskutiert und geplant, 2037 könnte sie fertig sein. 2037! Eine Bühne, Technik, Sitzplätze fürs Publikum, Dach darüber. Kostet eine Milliarde, dauert zwei Jahrzehnte. In Köln werden die Bühnen seit 2015 saniert. Im Juni dieses Jahres sollte nach vielen Querelen und Verschiebungen Eröffnung sein. Im Mai wurde die Eröffnung aber wieder verschoben!
Die Gründe fürs Scheitern sind vielschichtig und unterschiedlich. Stuttgart 21 wurde von der Zauneidechse ausgebremst – nein, das ist kein Witz. Auch die Mauereidechse machte Probleme. Und die Fledermäuse. Der Juchtenkäfer sowieso. Alles geschützte Arten, wohnhaft zwischen Gleis 1 und Gleis 16 oder im benachbarten Schlossgarten. Sie mussten erst in einem Monitoring-Verfahren erfasst, dann umgesiedelt werden. Das dauert. In Baden-Württemberg warnt inzwischen sogar die grüne Landesregierung davor, den Artenschutz „über alles“ zu stellen.
Auch die Bürgerin und der Bürger gehören zu einer geschützten Art. Egal, ob Windpark, Stromtrasse oder ICE-Strecke: Sie sollen und müssen an der Planung beteiligt werden. Es gibt seriöse Umfragen, nach denen eine große Mehrheit der Deutschen bei Großprojekten sogar für mehr Bürgerbeteiligung als bisher votiert. Es gibt andere, ebenfalls seriöse Umfragen, nach denen eine große Mehrheit der Deutschen findet, Großprojekte müssten viel schneller realisiert werden.
Die Naturschützer haben zweifellos berechtigte Anliegen. Die Artenschützer auch. Ebenso die Anwohner, die aus ihrem Wohnzimmer lieber auf eine Streuobstwiese als auf einen Strommast schauen. Und die Bürger, die sich ganz einfach das Recht nehmen, in öffentlichen Angelegenheiten mitzureden. Autoritär regierte Staaten nehmen darauf keine Rücksicht, da geht alles schneller. Demokratische Staaten suchen den Ausgleich der Interessen. Ich möchte keinen autoritären Staat, aber eine Demokratie, die Autorität ausstrahlt!
Vor rund zwei Jahren hat Olaf Scholz das neue Deutschland-Tempo ausgerufen. Erzählen Sie das mal einem Amerikaner, Inder oder Finnen. Sie werden Sie erstaunt anschauen: Crazy, diese Deutschen!
Wünsche Ihnen einen schönen, bunten Herbst. Und wie immer – bleiben Sie optimistisch!

Freundliche Grüße,

Ihr Manfred Gerz,
Chefredakteur